Die Forschung zum Arabischen Frühling hat sich vielfach mit den sozioökonomischen Ursachen beschäftigt, die zu den Protesten, Aufständen und Revolutionen geführt haben. Mit Blick auf die Zeit nach dem Sturz der Diktatoren wurde vor allem die politische Transformation erforscht. Und obwohl Missstände wie hohe Arbeitslosigkeit und steigende Preise fortbestanden und auch Proteste immer wieder auftraten, wussten wir bisher wenig über die politische Ökonomie in Phasen politischer Transformation. Um diese Lücke zu schließen, wurden im Projekt „Streit um sozioökonomische Reformen: Politische Konflikte und gesellschaftliche Proteste in Ägypten und Tunesien nach 2011 im interregionalen Vergleich“ detaillierte Fallstudien zu Ägypten und Tunesien durchgeführt. Eine Themed Section in der Zeitschrift Mediterranean Politics, herausgegeben von Projektleiterin Dr. Irene Weipert-Fenner, fasst nun die Ergebnisse des Projekts zusammen.
Für beide Länder, die ähnliche polit-ökonomische Verhältnisse, aber bis 2021 sehr unterschiedliche politische Entwicklungen aufwiesen, gaben Fallstudien zu Fiskalpolitik, Arbeitsrecht und Dezentralisierung wichtige Einblicke in die Konsolidierung von Demokratie (Tunesien) und Autokratie (Ägypten). Speziell die Untersuchung von Konflikten rund um sozioökonomische Reformen half dabei, die relevanten Akteure wie Wirtschaftseliten und Gewerkschaften und ihre relative Macht im Verhältnis zur politischen Elite zu einem bestimmten Zeitpunkt zu identifizieren. Die Analyse zeigte auch, wie formelle und informelle Institutionen genutzt wurden und ob der neue institutionelle Rahmen ein effektives Konfliktmanagement ermöglichte.
Gerade für die Frage, wie es zur aktuellen Re-Autokratisierung Tunesiens kommen konnte, sind die Ergebnisse von großer Bedeutung. Aber auch für Ägypten sind die Befunde wichtig, die entgegen der Mythe von Autokratien als effiziente, da durchsetzungsstarke Regimetypen stattdessen zeigen, dass auch extrem repressive Regime Interessen wichtiger Unterstützergruppen sichern müssen und hier divergierende Interessen zu Konflikten führen und die Reformkapazität stark einschränken können. Generell zeigt sich also ein gemischtes Bild, was die Kapazitäten zur Umsetzung von Reformen angeht, das nicht allein durch den Regimetyp oder die Leistungsfähigkeit des Staates erklärt werden kann. Stattdessen liegt die Erklärungskraft in einem dynamischen, relationalen, handlungsorientierten Ansatz zur Analyse staatlicher und gesellschaftlicher Akteure in themenspezifischen sozioökonomischen Reformkonflikten.
Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit Dr. Amr El Shobaki und Dr. Nadine Abdalla vom Arab Forum for Alternatives in Ägypten sowie mit Dr. Bassem Karray, Dr. Hamza Meddeb und Rabeb Laabidi von der Universität Sfax in Tunesien durchgeführt. Die VolkswagenStiftung hat das Projekt für vier Jahre gefördert.
Die Beiträge der Themed Section sind online first erschienen und stehen auf der Website von Taylor & Francis Online zur Verfügung. Zur Einführung von Irene Weipert-Fenner